Metaphern der Seele – Zeichnungen von Gerhard Staufenbiel
Christoph Stiegemann
Natürlich ist der Gegenstand besetzt, die Bildtradition lang und von der Romantik über die Moderne bis zur Gegenwart haben sich Künstler immer wieder mit diesem Motiv befaßt. Hier sei nur Wilhelm Lehmbruck erwähnt, einer der wichtigsten Exponenten der Bildhauerkunst der Moderne in Deutschland. Er plante gegen Ende seines kurzen Lebens eine Plastik mit dem Titel »Geist der Welt«. Sie sollte die Form der Schale einer Schädeldecke haben. Zur Ausführung kam es nicht mehr. Er starb allzu früh im Jahr 1919.
Gerhard Staufenbiel vermag dem Thema durchaus eigene Seiten abzugewinnen. Seine Zeichnungen zielen nicht auf billige Effekte, sie sind bewußt unspektakulär. Betrachten wir die kleinformatigen Blätter genauer. Bei den älteren Arbeiten der Jahre 1991 bis 1993 wird der Schädel – mal kompakte Form, mal zarte Andeutung – auf neutralem, manchmal in Erdtönen zurückhaltend koloriertem Grund ins Blatt gesetzt. Räumliche Angaben sind äußerst spärlich. Nur in wenigen Blättern ist eine Bodenplatte zu erkennen. Halt gibt dem Schädel auf einigen Blättern die durch kräftige Schraffen betonte Vertikale der Wirbelsäule. Diese kann aber auch an Festigkeit verlieren. Dann gleicht sie eher einem Halm, über dem die Schädelform wie eine Blüte schwebt. Auf solchen Blättern wirkt der Schädel eigentümlich belebt. Bezüge zu den spukhaften Traumgesichten in den Bildschöpfungen der Romantik und der Symbolisten – etwa in den Werken Odilon Redons – klingen an, wie Staufenbiel überhaupt eher ein retrospektiv gerichteter Zeichner ist, ein Träumer und Visionär. Auf anderen Blättern scheint die Schädelform selbst Wurzeln auszutreiben, das erdhafte Gebundensein betonend. Fängt der gewölbte Bogen der Schädeldecke dagegen eine eigene Welt ein, so löst er sich; wird leicht, erscheint die Knochensubstanz transparent, zart und dünnhäutig wie eine Seifenblase. Bezüge zur uralten Vanitas-Allegorie des »homo bulla«, zumeist dargestellt in der Gestalt eines mit Seifenblasen spielenden Jünglings oder Kindes, sind unverkennbar. Das Bild des homo bulla (der Mensch ist eine Seifenblase) geht auf antike Quellen bei Lukian und Horaz zurück und war in Renaissance und Barockzeit weit verbreitet. In der christlichen Ikonographie steht der Schädel als Symbol für Sünde und Tod. Schon seit dem 10. Jahrhundert erscheint er in Byzanz am Fußpunkt des Kreuzes auf Golgotha, seit dem 11. Jahrhundert auch in der abendländischen Kunst. Es ist der Schädel des Alten Adam, des ersten Menschen, der nach der Deutung des Origines an jener Stelle begraben worden war, an der das Kreuz Christi errichtet wurde. Auch im Bereich der Grabplastik durfte er nicht fehlen. Als ständiges Zeichen der Vanitas, der Nichtigkeit irdischer Dinge, mahnt er zu Umkehr und Buße und wurde so das Attribut von Einsiedlern, Sündern und Asketen. Die Memento-Mori-Thematik greifen die jüngsten Arbeiten auf, bei denen Gerhard Staufenbiel auf historische Vorbilder zurückgeht (»Anatomia« des Andreas Vesalius von 1551).
Unter den Arbeiten Staufenbiels finden sich darüber hinaus auch solche Blätter, auf denen die feste Schädelform sich auflöst, hinübergleitet ins Amorphe. Aber es stirbt nicht ab, sondern erscheint als künstlerischer Organismus neu belebt. Alles bleibt in der Schwebe, wandelt und öffnet sich im Übergang. Der Schädel, derart poetisiert, erweist sich als Universalform, die eine unendliche Bedeutungsvielfalt eröffnet. Das zeigen besonders die 1994 entstandenen Blätter zum »Phänomen Wasser«. In ihnen lichtet sich die Schattenwelt, schwebt der Schädel über wasserblauer Fläche, ist er Gefäß und entläßt seltsamen Ausfluß. Hier ist er nicht das »knöchern Gebein« – warnendes Memento mori und Vanitas-Symbol – sondern Gefäß des Lebens, Sitz des Geistes und Metapher der Seele.
Jenseits der christlichen Ikonographie wird mit dem erwachenden wissenschaftlichen Interesse der Neuzeit und besonders mit der Aufklärung am Ende des 18. Jahrhunderts der menschliche Schädel Gegenstand vergleichender anatomischer und physiologischer Untersuchungen. Sie gipfeln in der »Schedellehre« des Arztes Franz Gall, der seine Thesen 1798 zum erstenmal vorstellte. Er propagierte, daß man durch kraniologische, d.h. am Schädel ansetzende Forschung Rückschlüsse auf das Gehirn und die geistigen Fähigkeiten des Menschen ziehen könne, daß sich schließlich durch solche Analysen die menschliche Seele offenbare, die ihren Sitz im Gehirn habe. Die Schädelsammlung, die Gall anlegte, fand in Wien unzählige Nachahmer und führte zu einer beispiellosen Kopfjägerei, die auch vor Grabesschändungen nicht zurückschreckte. Einen scharfen Kritiker fand der krude Positivismus der Gall’schen Schädellehre in Georg Wilhelm Friedrich Hegel, der 1807 im 5. Kapitel seiner Phänomenologie des Geistes schrieb: »Es ist von dieser Seite für völlige Verleugnung der Vernunft anzusehen, für das wirkliche Dasein des Bewußtseins einen Knochen auszugeben; und dafür wird er ausgegeben, indem er als das Äußere des Geistes betrachtet wird…«. Schon Hegels Kritik erweist, wie unsinnig es ist, aus der knöchernen Materie auf die Wirklichkeit des Geistes zu schließen. Zugang zur menschlichen Seele eröffnet hingegen die Welt der Kunst, die, wie Cathrin Pichler schreibt, zur Seele eine seltsame Verwandtschaft Unterhält. »Nicht allein über die Phantasie, die als Merkmal wohl beiden zugehört, sondern grundsätzlich und mehr noch durch eine eigentümliche Exterritorialität, die für beide charakteristisch ist. Weder die Kunst noch Ihre Patin, die Seele, lassen sich endgültig festlegen und zur Gänze in eine Ordnung der Vernunft einschreiben.« (Cathrin Pichler, Annäherungen, in: Kat. Wunderblock – Eine Geschichte der modernen Seele, hg. von Jean Clair, Cathrin Pichler, Wolfgang Pircher, Wien 1989). Wie der menschlichen Seele nie ganz beizukommen ist, so läßt sich auch die Kunst nie vollständig rational erfassen und erklären. Sie bleibt stets offen und mehrdeutig, ist aber gerade dadurch in der Lage, die Untiefen seelischer Vorgänge auszuloten.
Das stellen Arbeiten Staufenbiels aus den Jahren 1994/95 unter Beweis. Sie sind Teil eines groß angelegten Zyklus von 56 Zeichnungen, die in Auseinandersetzung mit der tragisch überschatteten zweiten Lebenshälfte des Dichters Friedrich Hölderlin entstanden. Der durch zunehmenden geistigen Verfall gezeichnete Dichter verbrachte 36 Jahre seines Lebens in einem Turmzimmer über dem Neckar in Tübingen. Seine Gedichte unterzeichnete er mit »Scardanelli« und versah sie mit fiktiven Datierungen. Die Titel der Zeichnungen sind diesen späten Gedichten Hölderlins entnommen. Auch hier ist wieder der Schädel das zentrale Motiv, um eine „Welt im Kopf“ ins Bild zu bannen, worin, wie es in Wilhelm Waiblingers Lebensbeschreibung des Dichters heißt, die Gedanken unablässig wechseln, »…gleich unfähig, seine dunstigen aufgestiegenen Geistesblasen festzuhalten.« In der ersten Folge von Zeichnungen, die den Titel »Der Erde Rund« trägt, ist das Kreisen der Gedanken in dieser hermetisch abgeschlossenen Innenwelt in eine breite bogenförmig sich durchs Format spannende Bahn gebracht, auf der ein Schädel treibt oder besser, von der er sich löst wie ein aus seiner Umlaufbahn herauskatapultierter, ins Trudeln geratener Planet. Und doch ist der Schädel das Zentrum dieses Kosmos, der nur im menschlichen Bewußtsein zur Existenz gelangt. Die unergründlichen Tiefen der menschlichen Seele, die sich im Schicksal des Dichters exemplarisch offenbaren, werden so zum Gegenstand der künstlerischen Reflexion.
(Ausstellungskatalog Museum Mühlhausen 1996)
Das Leben – das Sterben – die Unsterblichkeit: diese drei bilden den Gleichklang der menschlichen Endlichkeit.
Tanja Kemmer
(Jean Paul, aus Museum, 1814)
Der Mensch, insbesondere artikuliert über die Darstellung des Kopfes beziehungsweise des Schädels, ist das zentrale Thema des Künstlers Gerhard Staufenbiel. Für sich »entdeckt«, so Staufenbiel, hat er es 1976, und seitdem ist es sein ausschließliches Motiv, das er seit 1996 zuweilen auch zur Halbfigur, seit 1999 zur Ganzfigur erweitert. Seine Köpfe sind nicht etwa Porträts einzelner, bestimmbarer Menschen. Sie haben keine klar erkennbare, eindeutig definierbare Individualität und doch sprechen sie den Einzelnen als eigenartig vertraut an, sind ihre Züge übertragbar auf die subjektive, ureigene Empfindung und Selbstwahrnehmung. Die Köpfe, Gesichter, Züge – häufig auf das Wesentliche reduziert, mitunter nur in rudimentären Restbestandteilen der menschlichen Anatomie im grafischen Geflecht der Lineaturen und zeichnerischen Spuren auszumachen – schließen eine Verbindung zum eigenen Selbst, zu den täglich erfahrbaren, häufig fast unüberschaubaren Facetten des menschlichen Daseins schlechthin.
Die Frage, ob es sich um Selbstporträts handelt, ist nicht vollständig zu verneinen: Porträtähnlichkeit ist schwerlich auszumachen und häufig auch abhängig davon, in welcher Beziehung der Künstler zum Betrachter steht, der vielleicht seine eigene Wahrnehmung der Person des Künstlers auf die Darstellung überträgt. Dennoch: »Irgendetwas ist drin« (Staufenbiel) von dem, was ihn selbst ausmacht; er legt in gewisser Weise sich selbst hinein, seine Erfahrungen und natürlich auch seine Selbstwahrnehmung. Ohnehin stellt sich generell die Frage, ob »nicht jedes Kunstwerk, gleichgültig welcher Gattungszugehörigkeit, eine Selbstentäußerung des Künstlers und als Selbstdarstellung lesbar« ist (Gottfried Boehm).
Der Kopf, um ihn gewissermaßen zu definieren, ist ein Organ der Wahrnehmung und der Kommunikation, ausgestattet mit Augen, Ohren, Nase und Mund. Der als solches dargestellte Kopf wird im Bild vom Subjekt zum Objekt der Wahrnehmung; dasselbe aber passiert auch beim Betrachter: Er wechselt, indem er sich dem dargestellten Kopf gegenüber sieht, ebenfalls vom Subjekt zum Objekt der Wahrnehmung – es findet eine Form des Austauschs, der Spiegelung, der Projektion statt. Der Kopf im Bild, die Köpfe Staufenbiels werden zu Transmittern zwischen Künstler und Betrachter.
In der bildenden Kunst, insbesondere der letzten Jahrzehnte, ist der Kopf zum Zeichen nicht nur des menschlichen Körpers, sondern auch des menschlichen Lebens geworden, der gleichsam sehen, denken, sprechen kann, quasi autonom und frei für die Teilhabe an der Welt des Geistes steht.
Begrifflich vermutlich dem spätlateinisch-gemeinromanischen Begriff »cuppa« für »Becher« entlehnt, war »Kopf« ursprünglich die Bezeichnung für eine Trinkschale. Als materielles »Gefäß« des Geistes avancierte der menschliche (Toten-)Schädel im Laufe der Zeit zu dessen Sitz – häufig verglichen mit dem Himmelsgebäude als Ausdruck der sinnbildlichen Bedeutungsverknüpfung von menschlichem Mikrokosmos und universalem Makrokosmos.
»… Die Gehirnkugel – das heilige Menschenglied, die Himmelkugel auf dem Rumpf-Atlas – ist in ihrem Zusammenbau wirklich dem ägyptischen Labyrinth ähnlich, das unter der Erde so viele Gemächer und Paläste hatte als unter dem Himmel; denn nur im Gehirne findet ihr das uneinige Gestaltenlabyrinth, Kugeln-Hügel, Höhlen, Netze, Bündel, Knoten, Kanäle, Brücken, Trichter, Balken, Sicheln, Äste, Blätter, dann außer der weißen und grauen Substanz noch eine gelbe im hintern Lappen des großen Gehirns und eine schwarze in den Markbündeln – und endlich den gelben Sand in der Zirbeldrüse und die Wasser in den Höhlen … Das Geistige übrigens wird durch alle diese körperlichen Lichter nicht erhellt; der Kreis des Geistes wird von keiner Quadratur des Körpers beschrieben und berechnet.«
(Jean Paul, aus Museum, 1814)
»… Der eigentliche Leib der Seele ist der Nervenbaum, dessen Krone wie die der Palme, das Gehirn, das Köstlichste des Gewächses enthält und der zu ihr von dem unten gegliederten Rückgrat … als Rückenmarkstamm mit seinen Nervenzweigen aufsteigt. Der übrige Körper ist nur Borke, Treibkasten und Moos dieses wahrhaften Baums des Lebens und der Erkenntnis …«
(Jean Paul, aus Selina, 1825)
Gerhard Staufenbiels Werke sind künstlerische Umsetzungen von Musik und Literatur – »niemals als Illustrationen der Texte, sondern als individuelle Reaktionen auf die Werke und Lebensumstände der Autoren« (Staufenbiel) zu sehen –, aber auch Resultate der Auseinandersetzung mit der Vielschichtigkeit und dem Wechselhaft-Unerwarteten des menschlichen Daseins, dokumentiert durch seine Arbeitsweise: Der Künstler arbeitet ausschließlich auf Papier, immer in kleineren Formaten um die 40 x 30 cm, zumeist an drei bis vier Blättern gleichzeitig. Seine Werke als Zeichnungen zu charakterisieren, wäre zu einfach: Neben Bleistiften unterschiedlicher Härtegrade verwendet er Aquarell, manchmal Acryl, Pigmente, Tusche, Wachskreide, Farbstifte, gar Tee, kombiniert mit dem Verfahren des manuellen Abdrucks von Abbildungen aus Zeitschriften unter Anwendung eines Lösungsmittels. Bei dieser Übertragungstechnik spielt er mit dem »gelenkten Zufall«; das Ergebnis ist abhängig von Farbsättigung, Feuchtigkeit des Papiers und Druckgrad. Solange, bis er feststellt, »da entsteht etwas«, das es herauszuarbeiten gilt, und das auch nicht immer gelingt – bewusst einkalkulierter Zufall birgt Risiko, das Risiko des Misslingens wie aber auch des Entstehens von völlig Neuem und Unerwartetem. Um eine Plattitüde zu zitieren – wie das Leben so spielt …
Die Köpfe, Gesichter, mitunter Figuren des Künstlers erscheinen häufig als unvollständig, reduziert oder, um es emotionaler auszudrücken, ausgemergelt, verletzt, versehrt. Schädelknochen, Teile des Skeletts liegen offen und frei, Mimik und Kopfhaltung vermitteln Schmerz oder Leiden, erschütternd besonders da, wo eine gewisse Kindlichkeit oder Jugendlichkeit auszumachen ist.
Als Vanitas-Symbol für den ewigen und unentrinnbaren Wechsel von Leben und Tod wohnt Schädel und Skelett eine gewisse Schrecknis inne, scheinen sie doch Dokumente des Sterbens, Metaphern des Todes zu sein – als memento mori Mahnmal der menschlichen Sterblichkeit oder in Form des carpe diem Verweis auf die Vergänglichkeit des Lebens. »Die Geschichte menschlichen Lebens belegen seit Menschengedenken seine Gebeine. Dabei besitzen Skelett und Schädel eine besondere Faszinationskraft, insofern sie auf das Reich der Lebenden und der Toten gleichermaßen verweisen. Aus dieser existenziellen Stellung resultiert auch ihre besondere Symbolik und Ikonographie. Das eigentlich Nicht-Darstellbare, nämlich der Tod, wird metonymisch durch das Skelett dargestellt, also den Teil des Menschen, der seinen eigenen physischen Verfall am längsten überdauert … Schädel und Knochen [sind] nicht einfach nur tote Knochen, sondern ikonographische Embleme, die in die Reflexionen über Tod und Auferstehung, Diesseits- und Jenseitsvorstellungen wie Jüngstes Gericht, Himmel und Hölle eingebunden sind.« (Kerstin Gerning).
Der mehr oder weniger skelettierte Mensch ist nicht nur aufs Extremste nackt und bloß, er ist offen gelegt, in seiner Verletzlichkeit und der Labilität seines Daseins präsentiert – das rührt an ganz unmittelbare Existenzerfahrungen, nicht zuletzt auch des Betrachters.
Die Motive des Skeletts und, als maßgeblicher Teil dessen, des Schädels, verbinden Leben und Tod miteinander, und so sind sie, emblematisch gesehen, wiederum Zeichen von Übergang und Verwandlung des menschlichen Daseins – also der Hoffnung?
»… Eigentlich gibt es in uns keine Augenblicke und Zeitteile, sondern nur einen ewigen Augenblick, vor welchem außen die andern vorüberfließen. Wahrhaft bricht unsere innere Gegenwart eigentlich nie ab, und sie bleibt das Unvergängliche unter dem Vergänglichen, das an ihr herabschmilzt und rinnt. Unser geistiges Auge muß nur – sowohl in der Ansicht der Zeit als der Leiden – nicht die Täuschung unsers körperlichen sich wiederholen, welchem die festen Fixsterne zu laufen scheinen, indes sich bloß die Wolken unter ihnen bewegen. – Unaufhörliches Fließen ist Stehen; ein ewiger Strom ist ein stehendes Meer. Das Vergehen der Zeit kümmere dich nicht, da sie ja eben nie vergehen kann, sondern bloß ein ewiges Entstehen abmißt und einschließt …«
(Jean Paul, aus Ausschweife für künftige Fortsetzungen, 1823)
Gerhard Staufenbiel zeigt nicht die (Über-)Reste des Menschlichen, sondern die Essenzen dessen unzähliger, immer wieder neu zu erfahrender Spielarten. Seine Köpfe, seine Figuren sind keine Reduktionen sondern offene, unmittelbare, anrührende und darin höchst lebendige Akzentuierungen des Wesentlichen – Repräsentationen des Lebendigen.
(Ausstellungskatalog »Kommende Dortmund 2003)
Zu zwei Zeichnungen von 1998
Björn Egging
Gerhard Staufenbiel hat jahrelang ungegenständlich gearbeitet und sich mit abstrakten und organischen Strukturen beschäftigt, ehe er 1976 den menschlichen Kopf für sich entdeckte. Seitdem ist der Schädel das zentrale Motiv im Werk des in Paderborn lebenden Künstlers. Die Köpfe sind nicht nur Objekte, an denen sich Staufenbiel künstlerisch abarbeitet, wenn er sie auf das Papier überträgt. Geist und Seele mit sämtlichen Konnotationen erschließen sich dem Künstler und auch dem Betrachter sehr schnell. Beide Zeichnungen zeigen markante Köpfe im Profil, die das Bildquadrat beinahe bis an den Rand ausfüllen. Kontur und wichtige Merkmale wie Augen, Mund und Kiefer werden mit dem Bleistift skizziert. Bestimmte Farbflächen und Binnenstrukturen erzeugt der Künstler im Umdruck von Bildfragmenten aus Zeitschriften, wobei eher die Farbe einer Darstellung als das Motiv übertragen wird. Die nach dem Prinzip des kontrollierten Zufalls entstandenen Partien können anschließend mit Wasserfarben korrigiert und ergänzt werden. Die Zeichnungen wirken im Ergebnis gleichermaßen komplex und fragil. Staufenbiels Beschäftigung mit den Anatomiestudien Leonardos ist deutlich zu spüren, beide Werke wirken wie medizinische Längsschnitte, die in einem Fall Blutgefäße oder Lymphbahnen freizulegen scheinen. Jedoch ist die Darstellung nicht wissenschaftlich gemeint, die Bilder bleiben vielmehr geheimnisvoll. Hier scheint der metaphorische Aspekt der Arbeiten durch, die Köpfe können als spirituelles Symbol oder sogar als »memento mori« gelesen werden.
(Ausstellungskatalog Kunsthalle Bielefeld 2005)
Schädel, Gesichter und Gebein – Fundstücke aus dem Schoß der Zeit
Inge Habig
Sind die Zeichnungen Gerhard Staufenbiels bildliche Erinnerungen an Lebende oder an Tote oder an lebendige Tote? Anders gefragt: Pulsiert in seinen Schädeln und Gesichtern ein irgendwann gespeichertes Erkennen und Wissen um die Existenz der „Letzten Dinge“ oder um die Untergründe und Hintergründe des menschlichen Daseins?
Behutsam, fast zögernd und nur eben hingetuscht erfassen Stift und Pinsel Staufenbiels eigentümliche, figürliche Motive aus dem Zwischenreich eines Nicht-ganz-Jenseits und eines Nicht-ganz-Diesseits. Schädel schweigen und Antlitze blicken, Figurenskelette erscheinen durchsichtig, Figurenschemen werden gefangen gehalten in fremden Haltungen. Als hauchzarte Gebilde schweben sie ort- und raumlos auf der weißen Papierfläche. Sie verdichten sich nur in Hinweisen auf ihre Umrisse; während wichtige Stellen als ästhetische Überraschung immer wieder grafischfarbig akzentuiert sind – eine schwere Kunst der leichten Andeutungen.
Nicht um Festschreibungen der menschlichen Figur, des menschlichen Schädels und des menschlichen Gesichtes geht es also. Schon gar nicht um Ereignisse. Sondern es geht um Bildgedanken an etwas, das dem meditativen Betrachter in seiner Seele vertraut ist, weil es zum menschlichen Dasein gehört, obwohl es den Realität suchenden Blick befremdet. Ohne situative Bezüge nehmen Bilder vom Tode – aber ohne Realistik des Todes – und Bilder vom Menschsein – aber ohne die sinnliche, individuelle Materialität des Menschseins – Gestalt an. Sie zeigen Sein und Nichtsein zugleich, manchmal in der Art ägyptischer Kryptogramme, manchmal als moderne Bild-Poetik, die ihre Aussagen in dialektischer Schwebe hält. Sie tauchen auf wie Fundstücke aus dem Schoß einstiger und heutiger Zeit.
(Ausstellungsfaltblatt Kath. Akademie Schwerte 2005)
Körperwelt – Seelenwelt
Andrea Wandschneider
Das dichterische, resp. künstlerische Werk im Verständnis einer originären Neu-Schöpfung hat demnach seinen Ursprung nicht in der Körperwelt, »in der nie ein Schaffen, sondern nur ein (…) Mischen des Alten erscheint«, sondern in der Seelenwelt, dem »großen Reich des Unbewußten«. Folgt man Jean Paul in dieser Prämisse, so stellt sich die Frage, wie denn jene Körperwelt, die die Dichtung beschreibt und die Zeichnung ins Bild setzt, beschaffen ist, wenn sie als Neu-Schöpfung der Seelenwelt entspringt?
Eine offensichtliche Antwort gibt das zeichnerische Werk von Gerhard Staufenbiel. In diesen lautlosen, transparenten und dabei von tiefem Ausdruck durchdrungenen »Körperwelten« öffnet sich eine innerseelische, dem Begriff entzogene Welt, zeigt sich das Unendliche, »Unsterbliche« im Endlichen (des Leibes). Hier geschieht, was nur das Kunstwerk vermag: die Aufhebung jener dialektischen Trennung von Beseelung und Verkörperung, Entrückung und Vergegenwärtigung. Darin erfüllen diese Zeichnungen ganz von sich aus eine zutiefst humane Aufgabe.
(Ausstellungskatalog Paderborn 2007 (Auszug))
Der Zeichner Gerhard Staufenbiel
Markus Runte
(…)
Staufenbiel zeichnet den Schädel aus allen erdenklichen Blickwinkeln. Es sind die sich gegenseitig durchdringenden Ebenen von Realität und Abstraktion, die sich anfangs in seiner Motivwelt finden.
Er arbeitet ausschließlich auf weißem Papier, stets in kleinen Formaten und oft an mehreren Blättern gleichzeitig, aus denen später, ab 1994, ganze Serien zu einem Thema entstehen. Indem er seinen Blick auf nur diesen einen Gegenstand richtet, öffnen sich Dimensionen der Wahrnehmung, die man hier am wenigsten vermutet; er seziert mit dem Bleistift den menschlichen Kopf und gibt den Blick frei in eine imaginäre Landschaft. Seine Bilder entstehen nicht aus sensationellem oder wissenschaftlich anatomischem Interesse, vielmehr sind es feinsinnige Eindrücke aus integrierten anatomischen Formen, die Staufenbiel im Entstehen zeigt und dadurch den Betrachter am Prozess der künstlerischen Form- und Gestaltfindung teilhaben lässt.
(…)
In Verbindung mit den Elementen Erde und Luft halten die Themen Leben und Sterben bzw. Geburt und Tod Einzug in seine Motivwelt, in der sich Farbe und Sujet gegenseitig bedingen. Staufenbiel sucht und findet Möglichkeiten, den geheimnisvollen Entstehungsprozess des Menschen von der Festigung (Geburt) bis zur Auflösung (Tod) zu visualisieren.
(…)
Gerhard Staufenbiels Intentionen sind eine scheinbar nicht enden wollende ästhetische Wahrheitssuche zwischen objektiver Formanalyse, künstlerischer Transformation und menschlicher Zustände vor und nach dem Tod. Seine Bildschöpfungen sind komplex und überraschend, erschreckend und faszinierend, realistisch und symbolisch, abstrakt und zugleich immer wieder äußerst konkret. Mit künstlerischer Intention und Hilfe der Sinne und Sinn-Bildung erforscht er den menschlichen Schädel, zeichnet Formen irdischen Lebens, registriert und reflektiert, löst Fakten auf und setzt sie neu zusammen. Auf der Suche nach dem Wesen und dem »Sein« des Menschen können Staufenbiels Zeichnungen Antworten geben.
(Ausstellungskatalog Paderborn 2007 (Auszug))
Gerhard Staufenbiel. Der Blick nach Innen
Christiane Heuwinkel
(…)
Bei Gerhard Staufenbiel ist der Kopf ein Zeichen, ein Symbol des Universums. Er ist der Ort des menschlichen Seh- und Denkvermögens und des Sprechens. Er ist das Zentrum, von dem aus Welt erfasst wird, und er umfasst die Gedanken-Welt. Der Kopf steht damit auch für den Anfang, den Ursprung, die »Kopf-Geburt«. Der Form nach ist der Kopf mit dem Ei verwandt, ist Mikrokosmos und Makrokosmos zugleich.
Die mit zartem Graphit gefasste Figur scheint die äußere Hülle des Menschen wie auch sein Skelett gleichzeitig abzubilden. Sie erscheint tranzluzent, geheimnisvoll und auratisch. Die Figur ist sowohl äußerlich (in ihrer umhüllenden Außenhaut), innerlich (mit ihrem Skelett) als auch geistig (mit ihrer Hirnmasse) dargestellt
Alles scheint dem Zeichner wichtig zu sein, doch setzt er den Akzent auf den Kopf, den Schädel, das Gehirn. Gerhard Staufenbiel konzentriert sich auf den Menschen im Moment der Selbstversenkung, auf seine Innen-Welt.
(…)
Der Schädel habe ihn nicht mehr losgelassen, sagt Gerhard Staufenbiel. Sein gesamtes Schaffen umkreist das Motiv des Kopfes und des Schädels. Woher speist sich die unermüdliche Kraft des Künstlers, die seinem Sujet seit inzwischen Jahrzehnten immer noch neue Facetten abzuringen in der Lage ist? Zunächst ist der Kopf bzw. der Schädel ein geradezu natürliches Studienobjekt des Künstlers. Porträts, Selbstporträts als Selbstbeobachtung im Spiegel, aber auch das Studium der komplexen Form des Schädels mit seinen Unregelmäßigkeiten begleiten viele Künstler vom Studienbeginn an ihr gesamtes künstlerisches Schaffen hindurch. Linienführungen, Farbverläufe, Perspektive, Licht- und Schatteneffekte können am Schädel exemplarisch studiert werden. Auch für Gerhard Staufenbiel ist das Studium des Schädels eine ständige Herausforderung, die eigene künstlerische Handschrift zu entwickeln. So sind seine Serien durchaus auch als handwerkliche Studien zu verstehen, die zeigen, wie souverän der Künstler mit seinen Mitteln umgeht. Doch tritt zu dem künstlerisch-handwerklichen Trainingsaspekt noch ein anderes, zentrales Motiv hinzu. Im Kopf und im Schädel konzentriert sich das Menschliche. Er stellt eine große gedankliche Herausforderung an den Künstler dar. Während der Kopf in seiner ellipsoiden Form für das Ei, den Ursprung des Lebens steht, so sein knöcherner Kern als Gegenpart für das Ende desselben. In der Sichtbarwerdung des Schädels ist das Ende des Lebens impliziert. In Gerhard Staufenbiels Zeichnungen kommen Kopf und Schädel, Leben und Tod zusammen, überlagern sich, werden untrennbar. Seine Bilder vom Tod sind auch Bilder vom Leben.
(Ausstellungskatalog Paderborn 2007 (Auszug)
(Anmerkung: Die vollständigen Texte sind im Katalog der Städtischen Galerie Am Abdinghof Paderborn veröffentlicht; 76 Seiten, 40 ganzseitige Farbabbildungen, 10,00 Euro; erhältlich in der Galerie und beim Künstler)
Autoren
- Prof. Dr. Christoph Stiegemann ist Direktor des Diözesanmuseums Paderborn
- Tanja Kemmer M.A. ist Referentin für Kommunikation der Draiflessen Collection in Mettingen/Westfalen
- Dr. Björn Egging ist Kurator am Kupferstichkabinett der Staatlichen Kunstsammlungen Dresden
- Prof. Dr. Inge Habig lehrte bis zu ihrer Emeritierung Kunstgeschichte an der Universität Dortmund
- Dr. Andrea Wandschneider ist Leiterin der Städtischen Museen und Galerien Paderborn
- Markus Runte M.A. leitet seit 2017 das neueröffnete Stadtmuseum Paderborn
- Christiane Heuwinkel M.A. ist Leiterin des Bereichs Kommunikation am Kunstmuseum Wolfsburg